Veränderung in der Offdillner Ortsgeschichte

Mit Sicherheit können alle umliegenden Ortschaften ein Datum präsentieren, mit dem zum einen erstmals ihr Dasein bewiesen wurde und zum anderen ausschlaggebend für alle gewesenen und kommenden Jubiläen ist. Dass aber ein solch historisches Schriftstück nicht grundsätzlich den Anfang des örtlichen Stammbaums bedeuten muss, dürfte für jeden heimatgeschichtlich interessierten Menschen kein Geheimnis sein. Aber getreu der seit jeher gepflegten Devise „Was nicht niedergeschrieben ist, ist nicht auf der Welt“ zählt hier nur, was schwarz auf weiß festgehalten wurde. Vermutungen und Annahmen, und mögen sie noch so logisch und stichhaltig sein, werden für eine Altersbestimmung nicht akzeptiert. Da aber derartige alte Schriften nur in geringem Umfang vorhanden sind, ist ihre Entdeckung nicht ganz einfach und geschieht in den meisten Fällen mehr oder weniger zufällig. 

Solches war auch beim Dorf Offdilln der Fall, dessen bisheriges Alter sich von einer Urkunde herleitet, die am 16. August 1355 ausgestellt wurde und ein Abkommen zwischen dem Ritter Johann von Haiger und der Gräfin Adelheit von Nassau behandelt. In diesem Dokument wird Offdilln erstmals in der heutigen Schreibweise genannt. Nun ist aber seit einiger Zeit ein weiteres Schriftstück bekannt, das ein bedeutend früheres Erstellungsdatum aufweist und in dem dieser Ort, zwar in leicht verkürzter Schreibweise, ebenfalls namentlich erwähnt wird. Wie diese Urkunde ins Blickfeld geriet und was der eigentliche Anlass ihrer Erstellung war, darüber soll nun der nachfolgende Bericht Aufschluss geben. 

Der erste und entscheidende Hinweis auf das neue Dokument resultiert aus einer Buchbeschreibung, die in den Nassauischen Annalen von 1956 steht und dort beim Durchblättern rein zufällig gefunden wurde. Darin beschreibt der bekannte Historiker und Buchautor Helmuth Gensicke das von Franz Dango verfasste und von der Gemeinde Wilnsdorf herausgegebene Buch „Wilnsdorf, Geschichte und Landschaft“. In dieser Buchbeschreibung erwähnt Gensicke auch einen Ritter Philipp von Wilnsdorf, Wylwale genannt, der seinerzeit Besitzungen in Offdilln hatte. Und als dieser die daraus erzielten Einkünfte testamentarisch dem Kloster Sayn vererbte, wurde der ganze Vorgang in einer auf den 21. Januar 1311 datierten Schenkungsurkunde festgehalten. Folgendes ist in der Beschreibung zu lesen (Auszug): 

„ …. es bleibt allerdings zu erwägen, ob im 13. Jhd. nicht mit einer weiteren Generation (der Ritter von Wilnsdorf) zu rechnen ist. Ritter Philipp Wylwale, der vielleicht (schon) 1257 erwähnt wird begegnet (uns) sonst erst 1273 mit seinen Brüdern Hermann dem Jüngeren und Conrad, die dabei ebenfalls als Ritter bezeichnet werden. Er lebte als Burgmann zu Sayn, noch am 21.1.1311, als er zugunsten des Maria Magdalena-Altars im Kloster Sayn sein Testament machte und diesem Gefälle in Seelbach (Seilbach), Offdilln (Dyllen), von seiner Mühle daselbst, in Grissenbach (Crissinbach), Rudersdorf (Reymdendorf), Allendorf (Aldinsdorf), Frampilsdorf und Aspach zuwandte.“ 

Das Bild zeigt Burg Sayn in 1840. Hier war die Hauptperson dieses Berichts, der Ritter Philipp von Wilnsdorf, vormals als Burgmann bedienstet.

Soweit die für uns interessante Passage aus der Buchbeschreibung. Zudem teilt Gensicke noch mit, dass sich diese Urkunde im Rheinland-Pfälzischen Landeshauptarchiv Koblenz befindet. Dass außer Offdilln auch noch andere nicht ganz unbekannte Ortsnamen hier genannt werden, gab Anlass zu einem schnellstmöglichen Erwerb des beschriebenen Buches. Dieses war aber mittlerweile vergriffen, und so wurde das Ganze problematischer als zunächst angenommen. Doch letztendlich konnte der Schreiber dieser Zeilen ein Exemplar vom Wilnsdorfer Heimatmuseum erwerben. In dem sehr aufschlussreichen Buch wird unter anderem auch die Genese des Siegerländer Dynastengeschlechts der Ritter von Wilnsdorf hingewiesen, das einst aus einem freien Bauerntum hervorgegangen ist und vermutlich eines der ältesten Adelsgeschlechter unserer heimischen Landschaft sein dürfte. Auch über den von Gensicke genannten Ritter Philipp Wylwale weiß das Buch einiges zu berichten; nur über die von ihm angeführte und für die Historie des Dorfes Offdilln so wichtige Urkunde war in dem Buch nichts zu erfahren. Vermutlich hat der Autor keine Ahnung von deren Existenz.

Bezüglich der Urkunde wurde nun Kontakt mit dem Landeshauptarchiv Koblenz aufgenommen und schon nach kurzer Zeit stand eine Abschrift davon per Mail zur Verfügung. Und damit begann ein weiteres Problem, denn das Schriftstück war im besten mittelalterlichen Kirchenlatein verfasst und eine deutsche Übersetzung nicht vorhanden. Außerdem war die Schrift auf Grund ihrer Beschaffenheit nur sehr schwierig zu entziffern, was zu weiteren Schwierigkeiten führen sollte.

Der Schreiber dieser Zeilen ist zwar zweisprachig aufgewachsen, nämlich mit dem von ihm ziemlich perfekt beherrschten schönen Offdillner Dialekt und, eher notgedrungen, auch mit dem mittlerweile bis in die letzte Haubergsecke in unterschiedlichen Akzenten gesprochenen Schriftdeutsch. Aber was das Lateinische anbetraf, so war er absolut hilflos. Zudem musste die Übersetzung von jemandem erfolgen, der nicht nur allgemeine Lateinkenntnisse besaß, sondern sich auch mit solch alten Urkunden auskannte.

Zwei solcher begabten Menschen waren dem Schreiber gut bekannt, nämlich der in Weidelbach geborene Werner Weitzel und der in Kirchhundem beheimatete Markus Müller, Mitarbeiter im Siegener Stadtarchiv. Beide waren nicht gerade am jubilieren, als sie die schwierig zu lesenden Dokumente in Augenschein nehmen konnten, zeigten sich aber, vermutlich dem Schreiber zuliebe trotzdem bereit, sich der Sache anzunehmen. 

Im Stadtarchiv Siegen wusste man auch von einem Buch, das den Titel „URKUNDENBUCH DER ABTEI SAYN“ führt und das alle Urkunden des Prämonstratenserkloster Sayn enthalten soll – somit sicherlich auch das für Offdilln interessante Dokument. Mit dem Verfasser Dr. Albert Hardt kam recht schnell ein Kontakt zustande; auch das betreffende Urkundenbuch wurde geordert. Obwohl dieses Buch auf Grund seiner geringen Auflage schweineteuer war, zeigte sich der Heimat- und Geschichtsverein Offdilln eV. sofort bereit, dieses Buch zu erwerben. In diesem Urkundenbuch war die besagte Urkunde zwar ebenfalls in ihrem ursprünglichen lateinischen Text abgedruckt, aber dieser war gut lesbar und viel leichter zu übersetzen als die Kopie.

Und dann geschah einige Tage später etwas ganz überraschendes. Da teilte Dr. Hardt dem Schreiber dieser Zeilen mit, dass sein Buch einen Druckfehler enthalte und die angegebene Jahreszahl nicht stimme, denn statt 1311 müsste es 1211 heißen. 

Das war nun, gelinde gesagt, ein echter Hammer. Statt dem lateinischen Anno Domini Tricentesimo (für 1311) nun Anno Domini Ducentesimo (1211), womit sich das Alter der Urkunde auf einen Schlag um stolze hundert Jahre erhöhte als vorher beschreiben. Aber schon bald kamen Zweifel auf, denn nach Gensicke hat besagter Ritter Wylwale in 1311 noch gelebt und in der im Wilnsdorfer Buch abgedruckten Ahnentafel dieser Sippe kommt ein Ritter Philipp, genannt Wylwale, erstmals 1273 zum Vorschein. Und weil auch die beiden regionalen Übersetzer der Meinung waren, das doch eher das Jahr 1311 stimme, entschloss sich der Schreiber dieser Zeilen, noch andere zu befragen, nämlch die Experten vom Landeshauptarchiv Koblenz. Das Ganze wurde verbunden mit der Bitte, auch die in der Urkunde angegebenen Ortsnamen „Dyllen“ und „Aldindorp“ zu überprüfen. Die Leute vom Landeshauptarchiv Koblenz waren bereit sich schnellstens der Sache anzunehmen und das Ganze anhand des Urkundenoriginals einer Überprüfung zu unterziehen. 

Das schon nach wenigen Tagen erhaltene Ergebnis wurde auf die für diese Publikation wichtigen Aussagen verkürzt und lautet wie folgt:

Im Text der Urkunde Best. 172 Nr. 62 wird das Jahresdatum 1311 („Millesimo Tricentesimo XI“) angegeben. Um 1211 kann es sich nicht handeln, weil der Großbuchstabe am Anfang des Wortes, das die Hunderter der Jahreszahl bezeichnet, kein großes D (für „Ducentesimo“=200) ist, wie der Abgleich mit „Datum“ in derselben Zeile zeigt; auch bezeichnet der diagonale Strich, wie er hier über dem dritten Buchstaben auftaucht, überall im Text der Urkunde ein „i“, das in „Ducentesimo“ an dieser Position im Wort nicht unterzubringen wäre – sehr wohl aber in „Tricentesimo“ (=300).

Was die Identifizierung der Ortsnamen angeht, stimmen wir Gensickes Ausführungen in  den Nassauische Annalen (Bd. 67 von 1956) dahingehend zu, dass es sich bei „Dyllen“ um das (nach LAGIS Hessen 1294 erstmals erwähnte) Offdilln handeln dürfte. Die Identifizierung von „Aldindorp“ mit Allendorf, dem heutigen Stadtteil von Haiger, halten wir hingegen nicht für belastbar; dafür ist der Name in der Region einfach zu häufig; hingewiesen sei auf Allendorf (Ortsteil von Greifenstein), Allendorf (Ortsteil von Dautphetal), Allendorf (Ortsteil von Merenberg) und Allendorf (Stadtteil von Gießen).

Damit waren auf einen Schlag die gröbsten Unklarheiten beseitigt, aber zu der nach LAGIS Hessen genannten Jahreszahl 1294 wäre noch Folgendes zu sagen: Hierbei handelt es sich um eine Siegerländer Urkunde, in der nicht der Ort direkt, sondern ein Rudolpho und ein Hermando de Dyllen genannt sind, die aber Allerwahrscheinlichkeit nach aus Offdilln stammen.

Aber lassen wir diese Siegerländer Urkunde doch einmal außen vor und betrachten wieder das hier vorgestellte Dokument, in der das Dorf Offdilln, wenn auch als Dyllen, erstmals als solches genannt wird. Wenn auch die Spanne von 1311 bis 1355 nicht gerade überwältigend erscheint, so ist diese, aus geschichtlicher Sicht betrachtet, nicht zu unterschätzen. Denn was zu dieser Zeit dokumentarisch festgehalten wurde, war nichts Alltägliches, sondern etwas, das unbedingt für nachfolgende Generationen erhalten werden musste. Und da solche Vorkommnisse nicht oft geschahen, und vor allem nicht alle erhalten blieben, sind solche Aufzeichnungen nicht gerade häufig.

Auch der Hinweis auf eine Mühle ist von nicht geringer geschichtlicher Bedeutung, denn im ganzen Haigerer Raum wäre das – nach momentaner Information des Schreibers dieser Zeilen – die bei weitem älteste Erwähnung eines solchen Betriebes. Die nächsten Nennungen erfolgen erst weit über hundert Jahre später. Als Beispiel sollen hier die beiden Offdillner Mühlen genannt werden, die in 1473 bzw. in 1497 erstmals aus dem geschichtlichen Dunkel hervorkommen.  

Zu den Besitzungen, welche der Ritter Philipp von Wilnsdorf seinerzeit in Offdilln besaß, wäre noch Folgendes zu sagen. Wahrscheinlich wurden diese über Jahrhunderte weitervererbt, denn noch in 1566 besaßen Adlige von Wilnsdorf Liegenschaften in Offdilln. Damals strengte ein Junker Friedrich Kolbe von Wilnsdorf zahlreiche Prozesse vor dem Gericht in Ebersbach an, um sein angeblich vom Dillenburger Magister Wilhelm Weiß veruntreutes Offdillner Eigentum wieder zurückzuerhalten. Ob solches gelungen ist, wurde nicht überliefert. Aber wie man sieht, ist das Aneignen von fremdem Besitz keine Folgeerscheinung der Moderne. Leute, für die bei mein und dein kein Unterschied bestand, hat es zu allen Zeiten gegeben. Aber es gab auch solche Menschen wie den Ritter Wylwale, die einen großen Teil ihrer Einkünfte einer guten Sache vermachten.

Abschließend nun einige Passagen aus der Urkunde, mit der alle Nachforschungen begannen und durch die das bisherige Alter von Offdilln eine Veränderung erhielt. Werner Weitzel hat sie wie folgt übersetzt: 

„Im Namen des Herrn und zum dauernden Andenken.

Ich Phylippus de Willendorff, Soldat/Krieger, genannt Wiederwale, zum Lager Sayn gehörent, Bistum Trier, überlasse nach vorgenannter Ordnung dem Altar Beata Maria Magdalena in der Saynschen Kirche besagter Diözese für meine mir im Dorf Seelbach übertragenen Güter einen jährlichen, fortlaufenden Zins von zehn Denaren – zu berechnen sind Brabander Denar-Goldmünzen. Desweiteren zwei Malter Käse im Wert von acht Denar der genannten Münzstätte oder Pagamentsdenare.

Außerdem vier Gänse und sieben Hühner.

Ebenfalls überlasse ich nun demselben Altar von meinem Vermögen im Dorf Dyllen jährlich sieben Denare der oben genannten Münzstätte oder Pagamentsdenare. Außerdem zum besagten Martinifest von meiner dortigen Mühle einen jährlichen Zins von fünf Goldmünzen besagter Münzstätte.

Ebenso einen andauernden jährlichen Zins von zehn und acht Denaren und vier Pfund Wachs, genommen von meinem Gut im Dorf Aldindorff.

Ebenso vier Gänse und ein halbes Huhn.

Und die Urkunde endet mit dem von Markus Müller mitgeteilten Schlusssatz: 

„… und wir, die oben genannten Engelbertus, Herr in Valendar, und Johannes de Arc bezeugen öffentlich den Anwesenden, daß wir unser Siegel auf Bitten des vorgenannten Ritters Philippus zusammen mit seinem eigenen Siegel dem hier vorliegenden Schriftstück zugleich in Anbetracht alles Vorausgeschickten auch in öffentlicher Beurkundung angeheftet haben. Gegeben im tausenddreihundertelften Jahr des Herrn am Tag nach dem Festtag der heiligen Märtyrer Fabian und Sebastian.“

Offdilln ist also anhand dieser Urkunde um 44 Jahre älter geworden, sprich 1311. An und für sich keine umwerfende Sache, aber für den Übermittler der Dorfgeschichte doch ein historisches Ereignis, das auf jeden Fall einer Bekanntmachung wert sein sollte. Vor allem aber auch deshalb, weil sich in diesen Tagen die Erstellung der Urkunde zum 710. mal jährt.

Verfasser: Harro Schäfer, Quelle Beitragsbild: Bild wurde freundlicherweise von der Sayn‘schen Schlossverwaltung beigestellt